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Normen und Standards – schlecht für Innovationen?

Ohne Normen geht das nicht. Basta.

Klar, kein vernünftiger Mensch würde an dieser Überschrift zweifeln. Kaufe ich eine Schraube bei einem Händler, so passt die Mutter des anderen präzise auf das Gewinde. Steige ich in einen  Leihwagen einer mir fremden Marke ein, so liegen Blinker- und Scheibenwischer-Hebel genau dort, wo ich sie erwarte. Standardisiert eben.

 

Normen vs. Standards – irgendwie das Gleiche

Normen, also gemeinsam von Fachleuten verabschiedete Regelwerke, sorgen im ersten Fall dafür, dass Teile verschiedener Hersteller sinnvoll zusammenpassen, Standards im anderen Fall sorgen dafür, dass der Nutzer sich ohne Mühe in ihm fremden Umgebungen zurecht findet, auch wenn es für diese Fälle keine ausgesprochene Norm gibt.

Doch beides, Normen und Standards, bedürfen jahrelanger Vorbereitungs- und Akzeptanz-Zeiträume, bis sie beim Nutzer eingeführt sind. Ich selber arbeite im Ausschuss einer VDI-Richtlinie nun schon seit vielen Jahren in einem Gremium von Fachleuten auf diesem Gebiet an einer Norm zum wirtschaftlichen Dokumentieren. Am Ende soll daraus ein Regelwerk publiziert werden, das Technik-Redakteuren Prozesse an die Hand gibt, gleichartig strukturierte und wirtschaftlich zu erstellende Technik-Dokumente herzustellen. Mit dem Erscheinen der Richtlinie allerdings wird das Werk schnell veralten, die Technik schreitet voran und ein Update wird erst in rund zehn Jahren erscheinen. Hemmt eine Norm dann nicht zuverlässig den Fortschritt?

 

Wenn man vom Standard abweicht

Zumal in der Technik  bekannt ist, dass das Abweichen von Normen zugunsten eigener (besserer?) Ideen Haftungs- und sogar Strafaktionen nach sich ziehen kann. Das Abweichen von Standards bringt häufig "nur" verärgerte Nutzer mit sich, die Mühe haben, sich zu orientieren oder effizient mit einem Arbeitsmittel umzugehen.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Die deutsche Sprache und das Gendern. In der deutschen Sprache ist nahezu alles normiert und geregelt, auch das generische Maskulinum, das nur zufällig maskulin ist, weil man sich irgendwann einmal zwischen feminin und maskulin hatte entscheiden müssen. Es hätte auch anders sein können, aber: Autoren und Leser haben sich nun einmal daran gewöhnt, dass die Substantivierung im Deutschen einer Vorschrift folgt, die wir alle verinnerlicht haben. Effizient und effektiv. Der Kabarettist Dieter Nuhr hat in der ihm eigenen Klarheit diese Vorschrift einmal erklärt. "Gendern" weicht von den Standards und Regelwerken der Sprache ab, was im Sinne eines Fortschrittes durchaus willkommen wäre. Doch "Gendern" ist noch lange nicht standardisiert, ein Wildwuchs hat stattgefunden mit dem Ergebnis, dass Autoren nicht einheitlichen Regeln folgen (können) und Leser in Teilen wesentliche Grundfesten der deutschen Sprache neu lernen müssen – erschwerend sogar nicht einheitliche Vorgaben, sondern in jedem Schrifttum wieder andere Ausführungen. Wer einmal eine durchgegenderte Masterarbeit hat lesen müssen, weiß, wovon ich Rede! Heutzutage ist Gendern für Leser lästig und ein Zeitfresser. Kein Wunder, dass sich die Mehrheit der Deutschen dagegen ausspricht, unabhängig von vermeintlichen Vorteil für eine bestimmte Zielgruppe.

Noch ein Beispiel dafür, dass das Bessere des Guten Feind sein kann? 

Das Bessere ist des Guten Feind.

Wir wissen, dass das Standardisierte und Genormte seine Berechtigung hat, aber vielleicht den Fortschritt hemmt. Kehren wir zu einem Beispiel aus der PKW-Entwicklung zurück: Die Lenkrad- oder Krückstockschaltung. Einige Automobile aus der Frühzeit ergonomischer Entwicklung hatten den Schalthebel in Lenkradnähe platziert. Nennen wir einmal Opel, oder Renault, oder Citroen. Der Vorteil: Der Fahrer muss das Lenkrad nur um wenige Zentimeter verlassen, hat gleich nach dem Schaltvorgang wieder die Hand am Lenker. Ein klarer Vorteil für die Sicherheit. Aber es war nicht der Standard! Daher liegen die Schalthebel manueller Getriebe heute ausnahmslos im Mitteltunnel, weit entfernt vom Lenkrad. Das mag auch technische Gründe haben, aber für den Fahrer ist das ein klarer Nachteil. Einige Hersteller elektrisch gesteuerter Getriebe kehren langsam wieder zurück zu Schalthebeln in Lenkrad-Nähe, zu Schaltwippen im Lenkrad oder zu kleinen Hebeln daneben.

Oder ein anderes Beispiel, das Saab seinerzeit vertreten hat: Bekannt war und ist, dass übliche Zündschlüssel an der Lenksäule im Falle eines Unfalles häufig die Kniescheibe schwer verletzen können. Saab hat also das Zündschloss in den Mitteltunnel verschoben, und damit war diese Verletzungsgefahr für immer verbannt. Die von anderen Marken gewechselten Fahrer waren irritiert, doch Saab blieb dabei, mit einer Ausnahme: Als Saab vorübergehend zu GM gehörte, und man dortige Standards übernahm, wanderte das Zündschloss zurück in an die Lenksäule – nun protestierten aber eingeschworene Saab-Fahrer und GM erlaubte das Zündschloss am Mitteltunnel.

Blackberry – ein Blick zurück

Die Gedanken zu diesem Blog-Beitrag kamen mir, als ich dieser Tage im Rahmen einer Wegwerf- und Recycling-Aktion im Büro auf eine Kiste mit meinen alten Mobiltelefonen stieß:  Wehmütig fand ich darin eine ganze Reihe von Telefonen des seinerzeit kleinen aber allseits bewunderten kanadischen Herstellers Blackberry. Wehmütig deshalb, weil diese Telefone sofort Erinnerungen wachriefen an perfekte Nutzungsoberflächen, uneingeschränkte Zuverlässigkeit und geniale Alltagstauglichkeit.  Tatsächlich waren die Blackberries meine besten Telefone ever, heutige iPhones und Android-Telefone sind im Vergleich dazu unbefriedigende Standardlösungen. Das Glück für Apple und Android dabei ist es, dass die heutigen Nutzer das längst vom Markt verschwundene Blackberry-Betriebssystem nicht mehr kennen.

Damals, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, gab es eine Vielzahl von Mobiltelefon-Marken und dementsprechend Nutzungsoberflächen. Blackberry richtete sich speziell an die Zielgruppe der Geschäftskunden, die effektiv und effizient arbeiten mussten, für die Sicherheit eine wichtige Rolle spielte. Die Zielgruppen heutiger Mobiltelefone sind heterogen, vom Schüler bis zum Senior. Die Hersteller müssen sich mit dem geringst-möglichen Standard auf diese Zielgruppe einstellen. Da ist kein Platz für innovative Lösungen à la Blackberry, beim heute gewohnt schnellen typischen Markenwechsel erwartet die Zielgruppe gewohnte Nutzungsoberflächen – genauso wie der Leihwagenfahrer nicht lange nach dem Blinkerhebel suchen möchte.

Nutzungsoberflächen sind also nicht notwendigerweise intuitiv, sondern sie müssen Gewohnheiten entsprechen, dürfen vom Standard nicht abweichen. Egal, ob der Standard nun gut ist oder nicht. So ähneln sich selbst iPhone und Android so sehr, dass ein Umstieg zwar Hürden beschert, aber insgesamt leicht möglich ist.

 

Blackberry war dagegen innovativ, kompromisslos auf einfache Bedienung ausgelegt, ohne dass der Nutzer Standards kennen musste. Da gab es viel Freiraum für nutzerfreundliche Details. Der Leser erkennt so langsam, warum ich bis zuletzt meine Blackberries als Arbeitsmittel für die Kommunikation bevorzugt habe. Das beginnt damit, dass die Rechtschreibprüfung und die Wortvorschläge aus heutiger Sicht genial arbeitete, dass die Kommunikationszentrale alle Kommunikationskanäle zusammenfasste, dass alle Schaltflächen dort zu finden waren, wo man sie vermutet hatte. Mit den letzten Blackberries allerdings, die unter Android liefen, verwässerten sich die einzigartigen Bequemlichkeiten zugunsten des Standards, der für Nicht-Profis gedacht war.

Und das Schärfste: Die LiIon-Akkus meiner zuletzt vor rund zehn Jahren aufgeladenen Blackberries  funktionierten jetzt noch sofort nach dem Einschalten und hatten immer noch Restkapazitäten von über 30 bis hin zu 80 % (zugegeben, eine Ausnahme mit aufgequollenem Akku)!

Fazit – Das Bessere setzt sich nicht (immer) durch!

Blackberry ist längst Geschichte, auch andere Innovationsträger bei Mobiltelefonen gibt es längst nicht mehr. Die Standards iPhone und Android haben den Markt fest in der Hand, nach innovativen Lösungen für professionelle Nutzer fragt niemand mehr.

Bei der Auswahl meines nächsten Handies wird die Marke kaum noch eine Rolle spielen, der Preis und das Gehäuse-Design bleiben fast als einzige Kriterien übrig. Schade eigentlich, dass Standards für mir fremde Zielgruppen mir meine eigenen Bedürfnisse vorgeben.

Postskriptum

Das iPhone ist meine ständige Kommunikationsplattform. Aber das Blackberry Priv von 2015, das hat es mir nach dem Bürofund dann doch wieder angetan. Viele App-Updates waren nötig, der Akku von 80% auf 100% zu laden – läuft! Ich werde es nun wieder nutzen.

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